Na, ist der Bericht noch nicht abgegeben, weil Du zur Sicherheit noch einen Punkt querchecken willst und auch mit der Formulierung des Fazits noch nicht zufrieden bist? Fühlst Du Dich unwohl mit dem letzten Projektabschluss, weil er nicht Deinen Qualitätsanspruch erfüllt? Hast Du Dich ins Büro gehetzt, weil Du das Haus so verlassen wolltest, wie es Deinen Ordnungs- und Sauberkeitsansprüchen entspricht?
Die Arbeit nicht gut genug zu machen. Eigenes nicht gut genug zu präsentieren. Ansprüchen nicht zu genügen. Nicht gut genug zu sein. Kennst Du das Gefühl? Schraubst Du Deine eigenen Ansprüche immer am höchsten und stellst damit sicher, dass Deine Arbeit unter allen Mängel-Lupen besteht? Investierst Du viel Zeit und Kraft, um Qualität abzuliefern? Das ist in unserer Leistungsgesellschaft so verbreitet wie es anstrengend ist.
Wenn Du, wie viele von uns, diese perfektionistischen Gedanken und die schnell damit einhergehende Erschöpfung durch eine ständige Selbstüberforderung kennst, hast Du sicher schon oft darüber nachgedacht, was Du ändern kannst. Sicher kennst Du die guten Ratschläge: Lass mal Fünfe gerade sein. Oder: Achtzig Prozent reichen auch. Aber so richtig wohl fühlst Du Dich mit dieser Taktik nicht, oder? Und so richtig aus Deiner nach Perfektion strebenden Haut kommst Du auch nicht raus. Als ob Locker-lassen so einfach wäre…
Zumal doch auch der Wunsch, gute Arbeit zu machen und dafür Anerkennung zu erhalten, sehr nachvollziehbar ist. Wir leben nicht nur in einer leistungsorientierten Gesellschaft, wir vergleichen uns auch noch ständig mit allen anderen Leistungen, Erfolgen und Makellosigkeiten über die (sozialen) Medien. Davon ab ist es doch auch gut, nach Vollkommenheit zu streben. Oder etwa nicht? Eben! Vollkommenheit und Perfektion sind etwas Gutes. Geh ins klassische Konzert und schau Dir die Geigenspielerin an. Oder frag den Balletttänzer. Sprich mit der Ingenieurin oder dem Herz-Chirurgen. Sie werden Dir vermutlich Alle den Wert von Perfektion und dem Streben danach bestätigen. Sollst Du Dich also noch mehr anstrengen und Deine eigene Messlatte noch höher legen? „Uff“, denkst Du jetzt vielleicht: „Ich kann doch sowieso schon nicht mehr.“ und ahnst, dass das nicht der Weg ist, den ich Dir hier empfehlen möchte.
Ich will heute eine Lanze der Entspannung brechen für diejenigen unter Euch, die so einen kleinen Perfektions-Anpeitscher in sich tragen und sich nicht so richtig von ihm trennen können. Und diese Lanze bricht einfach mal ganz anders als die Ratschläge, die man zum Thema Perfektionismus oft hört. Ganz ehrlich und unter uns: Diese Ratschläge kommen doch zu häufig von Mitmenschen, die die treibende Wirkung vom Streben nach Perfektion selbst nicht kennen. Ätsch. Deshalb mal weg mit den Ratschlägen.
Atme einen Moment durch, lass Deinen Blick schweifen, und dann erzähle ich Dir, was mir persönlich hilft, mit meiner Neigung zur Perfektion umzugehen.
Bereit?
Ich weiß, dass ich verschiedene Stärken habe und auch Einiges, was ich nicht so gut kann. Ich kenne diese Entscheidungssituationen, in denen ich innerlich hin und her wechsele zwischen „soll ich? Soll ich nicht?“. Ich weiß, dass ich in verschiedenen Rollen in meinem Leben verschiedene Persönlichkeitsfacetten in den Vordergrund lasse. Ich spüre oft die verschiedenen Anteile in mir, die mich zu mir selbst machen. Und ich stelle mir diese inneren Anteile gerne als einzelne Mitglieder meines inneren Teams vor. Ich freue mich immer, eine recht vielseitige Mannschaft zu haben und sie auch als solche zu erkennen. Denn dadurch kann ich „meine Leute“ sinnvoll beschäftigen. (Ich weiß, dass Du hier nicht aussteigst und das für schizophren hältst. Du hast Dich längst in verschiedenen Rollen in Deinem Leben unterschiedlich kennengelernt und kannst nachvollziehen, was ich meine.) Aus dieser gedanklichen Perspektive heraus: Höre auf, Dir Deinen Perfektionismus abgewöhnen zu wollen. Freue Dich lieber über dieses wertvolle Teammitglied in Deiner Mannschaft. Du bist und bleibst ja der Boss und musst dem kleinen Perfektionisten nicht unbeaufsichtigt alles überlassen, wo er sich austoben möchte. Sei bestimmt und klar mit ihm und übertrage ihm Verantwortung für die Aufgaben, die Dir wirklich am Herzen liegen und in denen Du auch wirklich nach Vollkommenheit streben willst.
Das Streben nach Wachstum, Entwicklung und Vollkommenheit gehört zum Leben dazu. Und es fühlt sich auch für mich nicht richtig an, alles auf eine achtzig-prozentige Qualität herunterzufahren, nur um in der zur Verfügung stehenden Zeit auch bloß alles unterzubringen. Es gibt Dinge, in denen will ich danach streben, meinem hohen Anspruch zu genügen – z. B. übe ich jeden Tag, die Mutter zu sein, die ich meinen Kindern sein möchte. Und da lasse ich mir gerne von meinem persönlichen kleinen Perfektionisten einheizen. Der ermahnt mich morgens zu noch mehr Geduld und noch mehr Geduld. Und er schlägt Alarm, wenn ich vergesse, dass die Gestaltung des morgendlichen Starts in den Tag in meiner Verantwortung als Mutter liegt. Das ist mir wichtig und ich nutze ihn in meinem Streben. Aber ich persönlich achte sehr darauf, dass mein Perfektionist sich nicht in die Sachbearbeitung einmischt. Der Umgang mit Ordnung und Sauberkeit zum Beispiel gehört nicht in sein Ressort. Da würde er auch viel zu viel Energie auf der Straße lassen, die ich von ihm eben für meine Herzensangelegenheiten brauche. Und wenn er anfangen will, mich zu den schmutzigen Fenstern anzutreiben, erinnere ich ihn an seine eigentliche Aufgabe in unserer Organisation. Ich muss ihn ziemlich oft erinnern, lenken und im Zaum halten. Es gelingt mir nicht immer, mich durchsetzen – sneaky little fella – und dann putze ich halt mal ein Fenster. Aber es gelingt mir oft und ich priorisiere damit, was mir wirklich wichtig ist. Das entspricht meiner Vorstellung von Wertschätzung und Selbstfürsorge so viel mehr, als mir ständig etwas abtrainieren zu wollen, was doch Bestandteil von mir ist und mich auch mit ausmacht.
Und Du?
Welche wichtige Aufgabe überträgst Du heute dem Perfektionisten in Dir?
Und welchen Bereich darf er abgeben?
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