Für heute stand eigentlich ein anderes Thema in meinem Plan. Aber jetzt schreibe ich über Freundschaft. Warum? Weil ich darum gebeten wurde. Erst habe ich gestutzt. Was hat Freundschaft mit Stress zu tun? Klar, kann es zwischen Freunden mal Stress geben. Und wir Alle kennen den Stress, Zeit für unsere Freunde zu finden. Aber in der Reinform, wie es jetzt gewünscht wurde, hatte ich das Thema nicht auf dem Radar.
Ich arbeite mit Menschen zu Fragen rund um die Themen Stressmanagement und Karriere. Dabei sind Eigenverantwortung und Selbstfürsorge wichtig. Meine Klienten kommen allein zu mir und nicht mit ihren Freunden. Wir schauen nach Innen und nehmen uns Zeit, um ureigenste Bedürfnisse und Wünsche zu finden, eigene Stärken und Ressourcen freizulegen, die zu häufig im Getöse des Alltags verschüttet werden. Oft geht es auch darum, persönliche Kraftquellen zu finden und zu nutzen. Die sind so wichtig wie sie individuell unterschiedlich sind. Regeneration und Erholung ist für uns alle essentiell. Ohne Erholung keine Leistung. Für uns Mitglieder unserer Leistungsgesellschaft nochmal: Erholung ist essentiell! Während also jeder Mensch Erholung braucht, ist der Weg dorthin sehr persönlich. Um ihn zu finden ist es sehr wertvoll, sich selbst Zeit und Reflexion zu schenken. Viele Menschen finden Entspannung im Sport und in der Bewegung. Für viele Andere ist Genuss und Gemütlichkeit wichtig zum Abschalten. Wieder Andere entspannen durch geistige oder kreative Inspiration. Und dann – und jetzt wird es interessant zum Thema Freundschaft – gibt es die Menschen, die viel Kraft daraus ziehen, mit sich selbst zu sein. Und es gibt die Menschen, die Kraft aus der Gemeinschaft ziehen. In der Persönlichkeitstypologie taucht diese Dimension oft als introvertiert-extrovertiert-Skala auf (z. B. MBTI, Myers-Briggs Type Indicator). Während es extrem introvertierte und extrem extrovertierte Menschen gibt, liegen die meisten von uns mit einer persönlichen Mischung beider Eigenschaften irgendwo auf dem Kontinuum der beiden Pole. Jeder braucht sein eigenes Maß an Rückzug und „Rauszug“, um sich wohl zu fühlen.
Bevor ich Dich aber mit theoretischen Tiefen langweile, will ich zurückkommen auf mein Stutzen. Stutzen ist ja immer gut. Stutzen heißt Innehalten. Innehalten ermöglicht Reflexion, und die brachte mich zu der Frage: „Freundschaft – wie gehört sie mit Stress zusammen?“. Und in der Tat kam ich zu dem Schluss, dass Freundschaft und Stress viel miteinander zu tun haben. Stress kann Freundschaften sehr belasten. Und gleichzeitig kann Freundschaft ein wichtiges Gegenmittel gegen Stress sein.
Also bitte, hier ein Plädoyer für die Freundschaft! Gerade in stressigen Zeiten. Bei chronischer Stressbelastung geraten wir in eine Abwärtsspirale, in der irgendwann eine Vernachlässigung und dann eine Verdrängung eigener Bedürfnisse einsetzen. Wir selbst nehmen in unserem immer schneller werdenden Hamsterrad aber oftmals gar nicht wahr, was gerade passiert. Wir priorisieren den Job und unsere Aufgaben und rennen schneller und schneller. Irgendwann glauben wir sogar, dass uns das wirklich wichtiger ist, als das Treffen mit Freunden oder der Austausch mit dem Partner. Nur noch kurz die Welt retten, … Unsere Freunde und Familie merken, dass etwas nicht stimmt. Aber dummerweise ist eine weitere Phase in der Stress-Spirale der Rückzug. Wir nehmen uns raus. Wir distanzieren uns. Und – ich sage es nur ungern, aber wir werden immer schwieriger im Umgang. Unsere Kritikfähigkeit sinkt in dem Maß wie unsere Aggressivität steigt. Immer öfter denken wir: „Nur Idioten um mich herum!“. Einen Freund auf seine zu hohe Stressbelastung hinzuweisen, ist entsprechend nichts für Hasenfüße!
Deine Freundin ist auf dem besten Weg ins Burnout? Stress ist ein allgegenwärtiges Thema (fast schon wichtig, bloß immer im Stress zu sein). Gerade deswegen tragen wir Alle Verantwortung im Umgang damit. Für uns selbst bitte zuerst. Und dann für unsere Partner, unsere Familie, unsere Freunde, unsere Kollegen und Mitarbeiter. Fass Dir also ein Herz. Stell Dich auf Widerstand und Gereiztheit ein. Aber lass Deine Freundin nicht ungebremst durch ihr Hamsterrad sausen. Aus dem Hamsterrad rauszukommen ist nicht immer schön. Und es braucht Zeit. Freundschaft trägt. Bleib da. Zeige Verständnis, sprich Mut zu. Höre zu und begleite.
Dir geht es selbst nicht gut? Egal ob Du total introvertiert bist (was ja übrigens überhaupt gar nichts mit Schüchternheit zu tun hat) und Deine Schwester Deine einzige Vertraute ist oder ob Du eine große, enge Clique hast und viel unterwegs bist: Wenn Du merkst, dass Du Dich zurückziehst und eine Distanz schaffst, die da sonst nicht war, dann lass Dir das ein Warnsignal sein. Gib Dir einen Ruck und frag Deine Freunde, die Menschen in Deinem Leben, die Dich kennen und schätzen, um ihre Sicht auf Deine Situation. Wahrscheinlich musst Du noch nicht einmal fragen, wahrscheinlich reicht es zuzuhören, was sie Dir sowieso schon seit einer Weile versuchen zu sagen. Wie beurteilen sie Deine Belastung? Freundschaft trägt. Mute Dich Deinen Freunden zu. Sei ehrlich. „In guten wie in schlechten Zeiten“ wird oft nur für die Ehe unterschrieben. Wie ich das beurteile, ist das auch eine wichtige Komponente von Freundschaft. Nimm an, was Freunde Dir anbieten.
In einer akuten oder auch chronischen Stressbelastung ist es ratsam, sich professionelle Unterstützung zu suchen. Sprich mit Deinem Hausarzt, suche Dir therapeutische Hilfe und komm natürlich gerne auch auf mich zu. Du bist Dir nicht sicher: Ist es „schon so schlimm“, oder „geht es vielleicht noch ein bisschen“? Frag Deine Freunde. Sie sind ein wertvolles Frühwarnsystem auf Deinem Stress- und Burnout-Radar.
Zum Weiterlesen besonders für Introvertierte interessant:
Cain, Susan: Quiet, The Power of Introverts in a World That Can't Stop Talking, Penguin, 2013. Zum Beispiel hier bei Amazon.
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